„Poesie ist dafür da Grenzen zu sprengen“ – Interview mit Safiye Can

von Celina Imm

Ich treffe Safiye Can nach der globale° Lesung, auf der sie soeben Einblick in ihren neuen Gedichtband Kinder der verlorenen Gesellschaft gewährt hat. Ich warte geduldig bis alle Gäste sich ihre Bücher signiert haben lassen und das ein oder andere Selfie mit der Dichterin geschossen haben. Sie warnt mich vor sehr müde und „unternikotiniert“ zu sein, aber dann packt sie doch aus über Grenzen, Ankommen, Rassismus, AfD und was Lyrik alles kann.

Bei globale° geht es um grenzüberschreitende Literaturen und Autor*innen. Da muss natürlich auch eine Frage zu den Grenzen kommen. Mit welchen Grenzen sehen Sie sich konfrontiert?

Oh gleich so eine tiefsinnige Frage! In der Tat kann man da sehr lange darauf antworten. Natürlich macht meine Herkunft schon mal ganz klar: da sind Grenzüberschreitungen – das Tscherkessische, das Türkische, das Deutsche. Und das Schreiben an sich bedeutet ja auch Grenzüberschreitung. Das heißt auch, ich müsste gar keinen Migrationshintergrund haben. Ich hätte auch deutsch-deutsche Dichterin sein können und einen deutsch-deutschen Namen haben können und trotzdem ist Literatur immer grenzüberschreitend. Oder muss grenzüberschreitend sein. Rassistische Texte sind für mich keine Literatur. Das ist nicht grenzüberschreitend. Gute Literatur bleibt – wenn wir die Zeit als Grenze nehmen – auch, wenn ich nicht mehr bin. Es wird sich später entscheiden, ob das richtig gut ist. Ich kenne keine rassistischen Texte oder Autor*innen, die auch überdauert hätten. Das kann für den Moment angesagt sein, weil das in diese zeitliche Gesinnung passt. Wir sehen das auch heute: Sarrazin kann sich jetzt vielleicht gut verkaufen, aber das wird nicht überdauern. Grenzüberschreitend ist für mich etwas anderes. Hassparolen, Gewalt…das ist eher etwas Einengendes. Grenzüberschreitend ist die ganze Welt zu umarmen ohne nach dem Volk zu fragen, oder nach der Religion – das alles ist absolut irrelevant.

Und dann werden Texte schließlich auch übersetzt und auch dadurch werden Grenzen aufgehoben. Egal in welche Sprache, ob ich sie beherrsche oder nicht. Ende November werde ich z.B. in Northern Arizona lesen. Dort wird der Rahmen ebenfalls zweisprachig sein. Deutsch, Englisch: auch da ist die Grenzüberschreitung. Aber das Publikum, das ist immer mein Publikum. Wenn sie die Texte mögen ist es ganz egal, wie alt, Mann oder Frau – das ist absolut egal. In den langen Jahren, in denen ich seit 2002 auf der Bühne stehe, begegne ich dem Publikum immer wieder an verschiedenen Orten. Und es gibt schon innerhalb eines Landes regionale Unterschiede. Aber wenn ich dem Publikum wirklich begegne, sehe ich, egal wie unterschiedlich es auch sein mag oder zu sein scheint, es tickt doch gleich herzlich. Und es versteht mich gleich gut. Poesie ist auch dafür da Grenzen zu sprengen. Deshalb habe ich auch für mich vielmehr die Poesie auserwählt, als die Prosa.

Ihre Gedichte sprechen viel von der Suche nach dem eigenen Platz und der Frage der Zugehörigkeit. Wo kann ich hingehören? Wo darf ich sein? Darf man als Dichterin überhaupt seinen Platz gefunden haben, um noch schreiben zu können oder muss man diesen Suchmodus in sich tragen, um Lyrik zu verfassen?

Ich würde gerne mal ankommen. Ich glaube, dass das ein wohliges Gefühl ist. Wenn man zum Beispiel verliebt ist, in einer Beziehung ist und das Gefühl hat, der Richtige ist da – dann hat man ein Gefühl des Ankommens und das ist ein sehr angenehmes. Sofern es sich denn hält. Aber es geht nicht nur um die Liebe. Es ist mehr. In dem Heimatgedicht, das ich vorgelesen habe, ist das bereits angeklungen. Dort werden verschiedene Verortungen unternommen: Das Gefühl von Heimat, was ja auch letztlich ein Ankommen ist, wird dargestellt. Das ist ein wichtiges Thema.

„Vielleicht ist Heimat die Wurzel aus Acht

Oder ein rüsseliges Ding mit Zimt obendrauf

Ist ein Chamäleon, das sich angleicht.

Vielleicht aber ist sie Frau Grün

Vom Erdgeschoss, die über alle schimpft

Vielleicht.“

 

(aus Safiye Can: Möglicherweise ganz und gar)

Als du die Frage gestellt hast, hatte ich die erste noch im Kopf und musste an das letzte Gedicht denken: das ist auch ein grenzüberschreitendes Gedicht. Da wird wie in allen meinen drei Lyrikbänden diese Grenze aufgezeigt von der Welt der/des Leser*in oder der Protagonistin oder meiner eigenen Welt und der realen Welt, der man sich entziehen möchte. Z.B. bei Diese Haltestelle habe ich mir gemacht: Das ist die eigene Welt, die man sich erschaffen hat. Auch in dem Gedicht Kinder der verlorenen Gesellschaft geht es genau um diese Grenzerforschung. Immer wieder wird gefragt: Wie geht’s euch da drüben eigentlich? Man versucht sich aus der Gesellschaft heraus zu retten, weil man verschiedene Sachen nicht aufgreifen kann. Es ist nicht verständlich für einen selbst, wieso das gerade passiert, was passiert. In der Tat ist es so: Wir schauen uns die Welt durch den Fernseher an, wir sehen diese Schreckensbilder und wir können nicht begreifen, dass das tatsächlich stattfindet. Und man ist dieser Ohnmacht einfach ausgeliefert.

Letztlich kann man es sich nicht aussuchen, ob man seinen Platz findet. Aber eines ist wohl Fakt: wenn man leidet, werden die Texte gut.  Könnte ich es mir aussuchen –  Hand aufs Herz – ich würde mir das Andere aussuchen. Ich will diese Erfahrungen gar nicht gemacht haben. Aber es ist so. Und wer will schon von Luxusschmerzen lesen?

Sie hatten es eben bereits mit den Schreckensbildern im Fernsehen angesprochen. In den Gedichten bauen Sie einerseits eine sehr starke Intimität auf, kreieren etwas sehr Nahes und man hat eigentlich das Gefühl, in einem geschützten Rahmen zu sein und trotzdem bricht immer wieder diese sehr bedrohlich wirkende Realität ein. Man kann sich davor nicht verschließen. Welche gesellschaftspolitischen Entwicklungen sehen Sie momentan mit dem größten Besorgen?

Die AfD. Ganz klar und noch schlimmer finde ich die Aussagen „Ja, aber so und so viele haben die AfD nicht gewählt.“ Nirgendwo auf der Welt lernt man aus der Geschichte. Nirgendwo. Das betrifft nicht nur Deutschland. Das ist überall so. Das ist Wahnsinn und das sind Situationen, da möchte ich nicht großartig auf Facebook oder sonst wo einen Aufschrei machen, sondern da erwarte ich das tatsächlich von Deutsch-Deutschen, dass reagiert wird. Es ist klar, dass ich mich dagegen wehre. Da erwarte ich etwas anderes. Genauso wie es nach „muslimischem“ Terror heißt –  also für mich hat das nichts mit dem Islam zu tun – Muslime sollen sich bitte melden und sagen, dass sie dagegen sind.  Natürlich sind sie dagegen.  Aber ich erwarte dann auch von den Anderen, dass sie Stimme zeigen. Auch auf der Frankfurter Buchmesse hat mir diese Stimme gefehlt.

Solingen, 1993

 

Wann immer ich Solingen höre

brennt ein Haus vor meinen Augen.

 

von Safiye Can

Dort sind es die rassistischen Verlage, die sehr stark vertreten sind. Und da hat man mir gesagt, es gehöre zur Demokratie dazu, dass jeder Meinungsfreiheit hat. Nein. Ganz klar: Nein. Und da muss man Grenzen ziehen: Entweder man lädt uns aus, also nicht nur Autor*innen mit Migrationshintergrund, sondern auch die deutschen Autor*innen, die überhaupt nicht diese Gesinnung teilen. Oder man sagt: Wir brauchen euch. Ihr gehört zu diesem Land und ihr bereichert uns. Vielen Dank für diese Frage, das finde ich sehr wichtig.

Wo wir schon beim Politischen sind – mir hat der Aufdruck hinten in Ihrem Buch sehr gut gefallen: Lest Gedichte. Das liest sich schon fast wie ein Aufruf zur Revolution.

Ja, Revolutionen sind wichtig. Nicht nur in der Literatur. Auch in der Politik.

Was können Gedichte heute bewirken? In Anbetracht von Aussagen „Ach wer liest denn heute noch Gedichte“?

In der Tat hat sich in der Anerkennung des Gedichts einiges getan und ich kämpfe dafür, dass sich auch weiterhin immer noch etwas tut [Safiye Can leitet Schreibwerkstätten an Schulen, Anmerkung der Interviewerin]. Ich bin auch an den Schulen, damit ich die Jugendlichen im richtigen Alter greife, und damit sie nicht zu diesen Erwachsenen werden, auf die ich heute treffe und die sagen „Ach nee, Lyrik ist echt nicht meins“. Verständlicherweise, weil sie die Nase voll haben von diesen Reproduktionsheftchen, Lehrern etc.

Was Lyrik bewirken kann, liegt letztlich beim Leser. Wenn man kein Verständnis aufbringen möchte und Gedichte nicht versteht, versteht man sie nicht. Wenn sie einen nicht berühren, berühren sie einen nicht. Also es liegt den Leser*innen und insofern kann es sehr viel bewirken und auch politische Fenster und Türen öffnen. Das war bei mir damals so mit türkischsprachigen Gedichten. Die konnten mir politische Richtungen aufzeigen und haben mich dazu veranlasst, mich sehr früh mit diesen Themen zu beschäftigen, etwa mit Rassismus. Damals dann natürlich in einem türkischen Kontext, aber das ist ja egal. Rassismus gibt es schließlich überall. Wir sind ja fast überall Ausländer in dem Sinne.

Auf jeden Fall können Gedichte ungemein viel bewirken, nicht nur im Politischen. Gerade hat ein Vater für seine 16-jährige Tochter, die Liebeskummer hat, einen Lyrikband mitgenommen und signieren lassen. Was kann bei diesem 16-jährigen Mädchen Lyrik bewirken? Sie fühlt sich nicht mehr allein. Sie sieht: Diese Schmerzen haben auch andere. Und das hilft. Wenn man die Worte, die man selbst nicht findet, weil man kein Autor*in ist – nicht jeder ist ja Autor*in – wenn man diese Worte dann liest, bewirkt das natürlich etwas in Einem. Ich habe die Gedichte nicht geschrieben, um mein Privates zu offenbaren. Es soll kein Tagebuch sein, sondern Lyrik. Genau aus diesem Grund wurde das geschrieben.

Vielen Dank für das Interview.

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